Vorstand beharrt auf Verlagerung nach Ungarn
In den Zeitungen war es zu lesen, z.B. im Berliner Tagesspiegel vom 09.07.2021. Siemens Energy soll nach Ungarn verlagert werden, weg aus Berlin. Monatelange Verhandlungen blieben ohne Ergebnis. Erstmals wird in einem Siemens-Unternehmen eine Einigungsstelle unter dem Vorsitz eines unparteiischen Arbeitsrichters eingerichtet.
Siemens Energy (SE) ist erst im Herbst vergangenen Jahres von der Siemens AG abgespalten und an die Börse gebracht worden. Es geht um die Verlagerung von 700 Arbeitsplätzen im Berliner Gasturbinenwerk. Hier sind insgesamt 3.600 Personen beschäftigt.
Der Vorstandsvorsitzende möchte einen Teil der Berliner Produktion nach Ungarn verlagern, davon 400 Arbeitsplätze in der Produktion.
Der Betriebsrat befürchtet mittelfristig das Aus der kompletten Fertigung in Berlin, wenn von hier zunehmend Wertschöpfung an Billigstandorte abfließt.
In den mehrmonatigen Verhandlungen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite wurden rund 30 Einzelmaßnahmen erörtert, in vielen Punkten konnte eine Lösung gefunden werden. Der Vorstand beharrt auf eine Verlagerung eines Teils der Produktion nach Ungarn.
Günter Augustat, Betriebsratsvorsitzender, wirft dem Management eine „Raus-aus-Deutschland-Strategie“ vor. Die Arbeitnehmerseite habe mit Hilfe externer Berater ein Alternativkonzept vorgestellt, dass zu erheblichen Kosteneinsparungen führe, aber vom Management nicht ins Kalkül gezogen worden sei, so der Bericht des Tagesspiegels.
Die IG Metall wirft dem jungen Vorstandschef Bruch eine gewollte Machtprobe vor. Gewerkschaft und Arbeitnehmerseite argumentieren, dass künftig Turbinen auch auf der Basis von Wasserstoff betrieben werden, die Technologie dazu – unter anderem mit Einsatz von Keramik – gebe es im Berliner Werk. Diese Argumente sind von der Arbeitgeberseite nicht berücksichtigt worden.
I. Einigungsstelle
Die Einigungsstelle wird auf Antrag einer Seite tätig. Arbeitgeber und Betriebsrat einigen sich auf einen unparteiischen Vorsitzenden und eine (gleiche) Anzahl von Beisitzern, die von Arbeitgeberseite und Betriebsrat gestellt werden. Als Vorsitzende verständigt man sich regelmäßig auf einen Richter am Arbeitsgericht oder Landesarbeitsgericht. Die Zahl der Beisitzer beläuft sich in der Regel auf jeweils 2 Personen, im vorliegenden Fall dürfte man sich auf eine höhere Zahl von Beisitzern einigen. Diese werden von Arbeitgeberseite und Betriebsrat benannt. Es können auch Verbandsmitglieder (Arbeitgeberverband/Gewerkschaft) sowie Rechtsanwälte benannt werden.
Zu den Verhandlungen werden häufig auch Sachverständige hinzugezogen. Dies wird auch im vorliegenden Fall erfolgen, da es um grundsätzliche Fragen der künftigen Strategie zur Dekarbonisierung geht, wozu sich auch Siemens inzwischen bekannt hat.
Wann kann eine Einigungsstelle eingesetzt werden?
Dies gilt insbesondere bei Betriebsänderungen (§ 111 BetrVG). Vorliegend ist eine Betriebsänderung gegeben, da der Arbeitgeber eine Verlagerung eines Teils der Produktion an einen anderen Ort (Ungarn) beabsichtigt. Dies bedeutet: Die Betriebsverlegung ist in § 111 S. 3 Nr. 2 BetrVG ausdrücklich erwähnt.
II. Interessenausgleich
Über die geplante Betriebsänderung soll ein Interessenausgleich zwischen dem Unternehmer und dem BR erfolgen (§ 112 Abs. 1 S. 1 BetrVG). Es geht um die Frage, ob, wann und wie eine Betriebsänderung durchgeführt wird. Es soll eine Einigung über die unternehmerische wirtschaftliche Entscheidung erfolgen. Vorliegend geht es um die Frage, wie notwendige Kosteneinsparungen erreicht werden können – insoweit liegen viele Vorschläge des Betriebsrats und der IG Metall auf dem Tisch. Es geht um die Frage, ob die geplante teilweise Verlagerung der Produktion nach Ungarn vermieden werden kann.
Es geht um die Frage, in welchem Umfange eine solche Produktionsverlegung notwendig wäre, welche Abteilungen hiervon betroffen wären und in welchem zeitlichen Rahmen eine solche Betriebsproduktionsverlegung erfolgen würden.
Im Interessenausgleich soll ein Ausgleich stattfinden zwischen den Interessen des Unternehmers, der eine möglichst weitgehende Rationalisierung anstrebt, und denen der Arbeitnehmer, die an der Erhaltung ihres Arbeitsplatzes interessiert sind.
Kommt es zu keinem Interessenausgleich, können Unternehmer und BR die Arbeitsverwaltung um Vermittlung ersuchen (§ 112 Abs. 2 S. 1 BetrVG). Dies ist für beide Seiten deswegen interessant, weil an dieser Stelle auch mögliche Fördermaßnahmen durch das Arbeitsamt geklärt werden können. Die Bundesagentur für Arbeit kann auch schon vor der Anrufung einer Einigungsstelle um Vermittlung nachgesucht werden.
AG und BR haben der Einigungsstelle ihre Vorstellungen über einen Interessenausgleich zu unter breiten und sich wechselseitig zu den Vorstellungen der Gegenseite zu erklären.
Kommt eine Einigung zustande, ist diese schriftlich festzuhalten und von der Arbeitgeberseite und vom Betriebsrat zu unterzeichnen. Kommt es nicht zu einem Interessenausgleich, stellt der Vorsitzende der Einigungsstelle das Scheitern der Verhandlungen fest. Nach entsprechender Entscheidung ist der Unternehmer frei, die von ihm gewünschte Betriebsänderung „durchzuziehen“.
Welche Folgen hat eine eigenmächtige frühere Durchführung der mit der Betriebsänderung verbundenen Maßnahmen durch den Arbeitgeber?
In der Rechtssprechung ist umstritten, ob der Betriebsrat beim Arbeitsgericht eine Unterlassung der die Betriebsänderung betreffenden Maßnahmen durchsetzen kann. Das LAG Berlin-Brandenburg und weitere Landesarbeitsgerichte vertreten die Auffassung, dass zur Sicherung der Beteiligungsrechte des Betriebsrats die geplanten Betriebsänderungen zu untersagen sind (LAG Bln.-Bbg 19.06.2014 – 7 TaBVGa 1219/14).
Der Arbeitnehmer hat im Falle, dass der Arbeitgeber die Betriebsänderung ohne Beachtung der Beteiligungsrechte des Betriebsrats durchführt, einen Anspruch auf Nachteilsausgleich gemäß §113 Abs. 3 BetrVG, soweit er von der Maßnahme des Arbeitgebers betroffen ist.
Der Nachteilsausgleich besteht in der Zahlung einer Abfindung in Höhe eines Betrags von bis zu 12 Monatsverdiensten, bei älteren Mitarbeitern und langer Betriebszugehörigkeit kann eine Abfindung in Höhe von bis zu 15 Monatsverdiensten bzw. 18 Monatsverdiensten geltend gemacht werden. Die Höhe bemisst sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach den drohen den Nachteilen für den Arbeitnehmer, hierzu zählen insbesondere Alter, Unterhaltsverpflichtungen, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
III. Sozialplan/soziale Folgen einer Betriebsänderung
Der Betriebsrat hat unabhängig davon, ob ein Interessenausgleich versucht, abgeschlossen, gescheitert, unterblieben oder die Betriebsänderung bereits durchgeführt worden ist, ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht zur Aufstellung eines Sozialplans zum Ausgleich oder zur Minderung der wirtschaftlichen Nachteile, die den Arbeitnehmerin infolge der Betriebsänderung entstehen (§ 112 Abs. 1 S. 2 BetrVG).
Sozialpläne haben eine zukunftsbezogene Ausgleichs- und Überbrückungsfunktion. Sie sollen die bis zum Erreichen der Altersgrenze voraussichtlich entstehenden wirtschaftlichen Folgen eines durch Betriebsänderung verursachten Arbeitsplatzverlustes ausgleichen oder zumindest abmildern. Die Betriebsparteien haben insoweit einen Gestaltungsspielraum, in welchem Umfang und wie sie die prognostizierten wirtschaftlichen Nachteile ausgleichen oder abmildern.
Bei Entlassungen werden üblicherweise Abfindungen vereinbart, die in der Regel nach dem Bruttomonatsentgelt, Lebensalter und Betriebszugehörigkeit gestaffelt werden.
Rentenberechtigte Arbeitnehmer und rentennahe Jahrgänge können von Sozialplanleitungen ausgeschlossen werden oder verringerte Leistungen erhalten.
Eigenkündigung/Aufhebungsvertrag
Anspruch auf Sozialplanleistungen haben auch Arbeitnehmer, die im Falle einer Eigenkündigung und im Falle des Abschlusses eines Aufhebungsvertrags, sofern diese durch den Arbeitgeber veranlasst worden sind. Dies ist insbesondere dann gegeben, wenn der AG den AN im Hinblick auf eine konkrete Betriebsänderung zur Vertragsbeendigung bestimmt, um so eine sonst notwendig werdende Kündigung zu vermeiden.
Können Arbeitnehmer vom Leistungsbezug ausgeschlossen werden?
Die Einigungsstelle soll regelmäßig solche Arbeitnehmer vom Leistungsbezug ausschließen, die in einem zumutbaren Arbeitsverhältnis im selben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens oder Konzerns weiterbeschäftigt werden können und die eine Weiterbeschäftigung ablehnen.
Kommt eine Einigung über den Sozialplan nicht zustande, so entscheidet die Einigungsstelle über die Aufstellung des Sozialplans. Im Streitfalle entscheidet die Stimme des Vorsitzenden (vorliegend der Arbeitsrichter).
Der Spruch der Einigungsstelle ersetzt die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat und ist verbindlich. Hierbei hat die Einigungsstelle sowohl die sozialen Belange der betroffenen Arbeitnehmer zu berücksichtigen, als auch die wirtschaftliche Vertretbarkeit der Entscheidung für das Unternehmen.
Interessenausgleich und Sozialplan sind gemäß BetrVG unterschiedlichen Regelungen unterworfen.
Bezüglich des Interessenausgleichs hat der Arbeitgeber nur eine Einigung „zu versuchen“, hinsichtlich des Sozialplans entscheidet im Falle der Nichteinigung die Einigungsstelle durch einen entsprechenden Spruch.
Ungeachtet der unterschiedlichen Ausgestaltung werden in den Verhandlungen zwischen BR und AG in der Regel beide Verfahren miteinander verbunden. Dies ist auch durchaus sinnvoll, da jede Seite ein Nachgeben in einem Punkt mit einem Nachgeben der anderen Seite in einem anderen Punkt verbinden möchte.